Innenleben, von Uwe Koch


veröffentlicht in "Das Gewicht der Stimme. Die Verteidigung des Nichtwählers.", Rotbuch Verlag, 1994
Dürfen wir erwarten, von unseren Politikern zu erfahren, warum sie in das Geschäft der Politik eintraten und wie sie zu ihren ersten Erfolgen gelangten? Die frühen Jahre spielen kaum eine Rolle in den Selbstbildern der Älteren, in den Memoiren von Staatsmännern. Eine Anekdote, eine prägende Erfahrung, etwas Kolorit aus dem Elternhaus, und schon wurde ihnen das erste Amt angetragen. Aus der arg gestrafften Lebensphase wird von bescheidenen Verhältnissen, doch kaum jemals von emotionalen Erlebnissen berichtet. Keine Schwankungen des Beginns, keine Krisen der Unerfahrenheit.
"Ich will Ruhm, Macht und Reichtum", antwortete Monica Manni, ein l9jähriges Fotomodell, der Zeitschrift Max auf die Frage nach Lebenszielen. In der Politik müssen Ehrgeiz und Eigeninteresse vertuscht werden. Der Politiker muß die Motive seines unermüdlichen Einsatzes erfinden. Und er erfindet schlecht. Schon bei dem allerersten, was er, der sich um ein Wahlamt bewirbt, erklären müßte, bindet er uns, die ihn wählen sollen, einen Bären auf.
Alle höheren Orte erstrebt er keinesfalls, weil es schön ist, in einem Dienstwagen vorzufahren, eine geheime Telefonnummer zu haben und in der Zeitung abgebildet zu sein. Ihn, ausgerechnet ihn, sollen höhere Werte, die Sorge um das Gemeinwesen, der Schutz der Schwachen oder die Verteidigung der Freiheit anfeuern.
Die Anfänge im Jugendverband oder der Studentenvertretung, die ersten Schritte des Anwärters, noch bevor er ein Nachwuchspolitiker ist, eröffnen das Training der doppelten Lebensführung. Eingetreten in einen Verein, der sich als Gemeinschaft von Gleichgesinnten versteht, muß er lernen, sich von den Gleichen abzuheben, um von ihnen befördert und aufs Schild gehoben zu werden. Im Interesse der Sache, versteht sich.
Vor den Parteifreunden kann der Nachwuchspolitiker also üben, was er später benötigt, um vor seinen Wählern zu bestehen. Hier probt er, das eigene Bestreben altruistisch zu verbrämen. Hier findet er sich ein in den Mechanismus der halben Wahrheit. Er tritt nicht vor seine Freunde mit dem Vorsatz, sie zu betrügen. Er denkt nicht: "Ich will Karriere machen", während er sagt: "Ich will für den Erfolg unserer Partei kämpfen."
Weil Politik die Kunst des Kompromisses ist, übt er hier schon den Kompromiß des Denkens. Zwischen dem begrenzten Horizont seiner Mit-Glieder und dem politisch-strategischen Wirken, dem er sich in höherer Funktion verschreiben wird, gilt es, Brücken zu bauen. Wenn er also die ein oder andere seiner Absichten vor den Freunden des Ortsverbands nicht so sehr in den Vordergrund stellt, dann geschieht das einzig, um das Interesse der Sache nicht zu gefährden (das Interesse der Stärkung der Parteilinken in der Bundestagsfraktion, das Interesse der Stärkung des Handwerks in der Landesregierunq, das Interesse unbestechlicher Umweltpolitik...).
Selten wird er eine Meinung einnehmen, die rundherum vorgetäuscht ist. Wo doch, kann es ihm zu großem Schaden gereichen. Vergessene Zitate sind scharfe Munition in der politischen Schlacht. Besser also, er lernt sich so auszudrücken, daß der Zugewinn neuer Einsichten immer noch möglich bleibt mit Formeln, die sowohl kämpferisch als auch dehnbar sind.
Er hat sich entschieden, Zeit zu investieren, und er sieht ein, daß es Menschen geben muß, die weniger Zeit haben und darum die Basis bilden. Zeit ist vorläufig sein wichtigstes Kapital. Irgendwo werden immer Freiwillige gesucht, die eine Kommissionssitzung besuchen oder bei der Vorbereitung des Sommerfests mithelfen. Die Investition von Zeit ist die erste Voraussetzung, um im nächsten Vorstand als Vertreter der jungen Generation dabeizusein.
Über Zeit zu verfügen wird auch auf seinem weiteren Weg ins staatliche Leben die Bedingung sein, Rivalen aus dem Feld zu schlagen. Zeit ist bedeutsamer als Geld. Wenn er mehr erreichen will, als Stimmkarten heben und Würstchen verkaufen, muß sein Engagement verschiedene Organisationsebenen umfassen: zum Beispiel eine Ortsgruppe der Partei und eine Arbeitsgemeinschaft, eine Mitgliedschaft im Kreisvorstand, in dem man als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft sitzt, deren Vorstand man aus Gründen des Informationsflusses ebenfalls angehört. Ist erst ein öffentliches Amt, etwa im Stadtrat, erreicht, vervielfacht sich der Aufwand. Zu dem Mandat tritt die Mitarbeit in einem Ratsausschuß, und zu dem Gegenstand des Ratsausschusses besteht wieder ein Beratungsgremium innerhalb der Partei.
Was er vorerst lernt: ein einfaches Handwerkszeug, die Geschäftsordnungsroutine, den Überblick über Zuständigkeiten, vielleicht gar, den Antrag auf Fördermittel für ein spezielles Projekt zu stellen. In den Semesterferien setzt er sich an seinen PC und schreibt ein "Positionspapier". Er glaubt an die Gestaltungskraft von Programmen, und er sucht Fraktionen und Bündnispartner im Makroorganismus der Partei. Einen Initiativantrag auf der Ortsdelegiertenkonferenz durchzubringen ist ihm, dem es an Wahlämtern mangelt, vorerst der einzige Gradmesser eigenen Fortkommens.
Aus dem Kampf um Positionspapiere wird der Kampf um Positionen. Eine Zeitlang findet der Neuling Befriedigung darin, als Fundamentalist zu gelten, aber irgendwann entscheidet sich auch ein Gesinnungsethiker, tätigen Einfluß zu nehmen. Im Bewußtsein, daß man nicht nur kritisieren darf, tritt er in die Gemeinschaft der Verantwortungsübernehmer ein. Dabei wird er unterstützt von Leuten, die ihm zuwider sind, aber ihn leitet nicht die Selbstsucht, sondern das Interesse der guten Sache, und irgendwie fühlt er sich als Agent under cover, wenn er sich beim pragmatischen Händeschütteln ertappt.
Sein erstes öffentliches Amt ist brotlos. Immerhin erscheint sein Bild im Wochenanzeiger, und ab jetzt gibt er Pressemitteilungen heraus. Die XYFraktion im Ortsbeirat Z. gibt bekannt, oder: Der Vorsitzende des Kerngebietsausschusses der Bezirksvertretung von A. erklärte dazu... Er schreibt von sich in der dritten Person, weil es so üblich ist und den Journalisten das Redigieren erleichtert. Ab jetzt ist er das Produkt seiner selbst und begleitet sich auf seinem Weg auf die Märkte.
Er übernahm ein Amt, und plötzlich hat er vertrauliche Gespräche zu führen. Immer noch fühlt er sich unterschieden von den Aufsteigern, denen die Verteidigung politischer Grundsätze nur Vorwand für den Sturz des Kreisvorsitzenden ist; die ihrer Gier nach Ansehen, Einfluß und Salär die Aura innerer Überzeugung geben - wie fremd ihm das ist, und wie sehr diese dem Ansehen der Politik doch schaden!
Jetzt gewannen die Vertrauten im benachbarten Distrikt die Delegiertenwahl. Auf dem Bezirksparteitag wurde bezüglich der Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften eine neue Mehrheit sichtbar. Ist auch die materielle Konsequenz des überraschend verabschiedeten Beschlusses gering (er wird dem Landesparteitag als Antrag zugeleitet), so erzeugt seine Annahme doch eine Stimmung ständigen Progresses.
Zu seiner ersten Intrige versteht er sich ohne Vorsatz, bei einem kleinen Umtrunk mit gelöster Zunge, kaum aus Machtstreben, eher aus gerechtem Zorn. Da gibt es langjährige Amtsinhaber, in höheren Positionen, die sich durch ihn ganz offenbar gestört fühlen. Sie verschleppen seine Anträge, sie setzen nicht auf die Tagesordnung, was er form- und fristgerecht einreichte, sie führen nicht aus, was gegen ihren Willen beschlossen wurde, und sie mißbrauchen ganz allgemein ihre Funktion.
Er ist nicht intrigant, nur übellaunig, als er dem Redakteur etwas erzählt, was ihm ein Freund aus dem Bauamt zutrug, eine Quelle übrigens, die auf keinen Fall genannt werden darf. Der Journalist soll nur selbst recherchieren, wann der Kreisvorsitzende sein Grundstück von der Gemeinde gekauft hat.
Doch die unglaubliche Enthüllung, auf deren Fährte er die Presse gesetzt hat, läßt auf sich warten. Er verliert das Vertrauen zur vierten Gewalt - und zur Oppositionspartei, welcher der Journalist angehören soll. Zugleich erschrickt er über sein loses Mundwerk. Was, wenn, aus welchen Gründen auch immer, die er für verfeindet hielt, gemeinsam gegen ihn verschworen sind? Was, wenn der Schreiberling seine unter dem Einfluß von Alkohol gemachten vagen Andeutungen, seine lediglich hypothetisch aufgeworfenen Fragen dem Betroffenen zugetragen hat? Der Denunziant!Diese Runde ging nicht an ihn. Nagelkauend erwartet er ein Strafgericht, oftmals formuliert er in Gedanken rechtfertigende Worte für die Versammlung, legt sich verschiedene angreifende oder abstreitende Strategien zurecht... doch das Gewitter kommt nicht. Ratlos versucht er das Gesicht des Vorsitzenden zu erforschen.
So strauchelt er noch manches Mal über seinen Eifer, doch sei es durch Zufall, durch Gunst der Stunde oder Langmut der Partei: Er stürzt nicht. Mit der Zeit weiß er besser zu unterscheiden, wo das Spiel waghalsig, wo es ohne Risiko ist: Er kann sich auf seine Witterung verlassen, er überlegt sein Vorgehen gut und baut doch manchmal mehr auf Intuition. Es gibt Politiker, an deren Seite er plötzlich nicht mehr gesehen wird, kurz bevor sie verzichten müssen, es gibt Angelegenheiten, für die er in Gremien und Klausuren ficht, um öffentlich zu ihnen zu schweigen, und andere, für die er auf öffentlichen Konferenzen das Wort ergreift, aber nur dort. Selten erscheint ihm etwas aussichtslos, allenfalls für den Moment nicht durchsetzbar. Er lernt, zwischen privater Gemütlichkeit und öffentlicher Feindschaft zu unterscheiden. Zu Jugendfreunden, die sich der anderen Partei zuwandten, hält er kumpelhaft Kontakt, und wer ihn wegen seiner politischen Überzeugung ablehnt, den nennt er verbohrt.
Seine Jugend ist vorläufig eine Qualifikation. Bis zu seiner Wahl in den Landtag taugt sie als Quotenmerkmal. Danach muß er sich von dieser Einordnung trennen, sie hält nicht mehr lange vor. Er erwägt, sich zu spezialisieren, doch er weiß um die Risiken: Ein Spezialist knüpft seinen Aufstieg an das Verfallsdatum seiner Vorgänger.
Die Wahl in den Landtag bedeutet persönliche Konsolidierung. Vier Jahre sind ein planbarer Zeitraum für Haus- und Familienbau. Seine Freundin: eine patente Akademikerin, gleichgesinnt, aber wenig geneigt, mit künftigen Kindern zu Hause zu sitzen, während e~ die Abende auf Versammlungen verbringt. Am Ende der Stichstraße, ein Stück unverbaubaren Waldes an der Grundstücksgrenze, entsteht das Einfamilienhaus mit ökologischem Einbau: Hier wird sie die Herrin der Gartenfeste sein.
In dieser Legislaturperiode strebt er kein höheres Ziel an, als das geliehene Vertrauen der Partei mit steter Sacharbeit zu sichern. Ab und an gelingt es ihm, mit einem unkonventionellen Vorschlag in der Rubrik "Personen" zu erscheinen, um seinen dem Wahlvolk allzu unbekannten Namen geläufig zu machen. Sein Hobby: das Kartenspiel. Seine Entspannung: Kriminalromane.
Kind seiner Zeit, weiß er vom Unwert jedes Dogmatismus, und andererseits auch, daß es interessant macht, wenn einem einige Grundsätze nachgesagt werden. Auf Tuchfühlung mit den Altersgenossen, kennt er den Distinktionsgewinn sachverständigen Genießens, im Ortsverein mit den Alten ist er bemüht, ein stinknormaler Mensch zu sein. Wieder sind die Parteifreunde sein Übungsmaterial. Wie ihnen muß er dem Wähler, seinem launenhaften Gebieter, gefallen: der ihn für allzu durchschnittlich hält, aber ihm nicht erlaubt, einen überdurchschnittlichen Wagen zu fahren; der seine Anzüge als langweilig verspottet, aber sich jede exzentrische Mode verbittet. Stets muß er mehreres zugleich an einem Abend spielen, den Connaisseur und den Biertrinker. In seiner abstrakten Eigenschaft als Politiker zählt er zu einer verpönten Berufsgruppe, in seiner konkreten Funktion als Abgeordneter ist er ein gern gesehener Gast. Die Bälle, die Narrenfeste, die Stiftungsfeiern strengen ihn an: Er darf nicht allein auf einer Gartenbank sitzen und Zuckerwatte essen, sondern muß alleweil ins Gespräch mit dem Bürger vertieft sein, schon wegen der Fotografen. So stürzt er sich unter die Menschen draußen im Lande, die jetzt drinnen im Festzelt versammelt sind, aber auch dort lauert Gefahr. Manchmal gerät er an einen monologisierenden Rechthaber, der ihm zwei Stunden Wahlkreisarbeit raubt. Die einen begegnen ihm mit übertriebener Ehrfurcht, die anderen sind distanzlos und vermeinen auch am Sonntagmorgen einen Anspruch zu haben, ihren Konflikt mit der Gewerbeaufsicht vor ihm auszubreiten.
Viele erwähnen jetzt gern, ihn zu kennen. Er beginnt, sein Leben für die Öffentlichkeit zu ordnen, auch das private, auch die Dunkelheit. Noch sind sie nicht hinter ihm her, noch lauern sie nicht mit ihren Apparaten. Was er abends in Frankfurt macht, wird von niemandem verfolgt. Immer öfter aber stellt er sich vor, sie könnten ihn jetzt beobachten. Im Kopf begleiten die Aufzeichnungsgeräte ihn stets.
Gibt es Zeugen, die einmal wider ihn aufstehen werden? Auf langen Autofahrten bilanziert er: die Kinder, mit denen er als Kind diese Spiele trieb, die Frau, die von ihm einen Scheck für die Abtreibung nahm? Der Studienfreund, dem er eine mittlere Summe schuldig blieb? Und dann diese andere Sache, im Streß des Examens... Er übertreibt. Er schüttelt die bösen Ängste ab.
Er ist schon wer: Vertreter von Regionalinteressen mit einer kleinen Hausmacht; Experte des Nahverkehrs, doch immer noch unter ferner liefen, man lädt ihn nicht in die Talk-Show ein. Er gehört nicht zu den Regisseuren, kann weder Meinungsumfragen in Auftrag geben, noch Freundschaften belohnen. Dem Volk, das er vertritt, ist er noch unbekannt.
Er möchte auf dem Landesparteitag manchem der Großen tüchtig einheizen. Doch jeder Vorstoß will wohl bedacht sein. Die Partei allein entscheidet über sein Vorrücken. Sie hat es in der Hand, ihn fortan Volksvertreter sein zu lassen oder nicht. Bleibt er ein fleißiger Sacharbeiter, der zu den Positionskämpfen nicht das Wort ergreift, ist ihm durch die Jahre das friedliche Auskommen eines hauptamtlichen Funktionärs garantiert, aber auch nicht mehr. Will er sich dagegen für höhere Aufgaben empfehlen, braucht er eine Profilierung, die zwischen Änderungsbekanntmachung und Zweckzuwendung nicht zu erwerben ist. Er braucht den Konflikt, mit dem politischen Gegner und einigen Vordermännern der eigenen Partei, und er braucht... Visionen!
Von ihm müssen im Einerlei des entmutigenden Geschäftsbetriebs die Impulse kommen, die das Gesicht der Partei in zehn, in zwanzig Jahren prägen werden. Mit seinem Namen muß die Reform der inneren Strukturen, die Überwindung organisatorischer Verkrustungen, die Anpassung des Programms an die neue demographische Struktur der Gesellschaft verbunden werden, kurzum, er möchte auch einer von den Hoffnungsträgern sein.
So fiebert er dem Landesparteitag als einem kleinen Forum unaufdringlicher Präsentation seiner selbst entgegen. Im äußeren Gewand einer Arbeitskonferenz zelebriert die Partei ihre Wichtigkeit (während doch die alltägliche Politik gut ohne sie auskommt). Die Delegierten, die im Foyer des Kursaals alte Freunde treffen, geben sich lässig und selbstverständlich und sind stolz, dazuzugehören, immer noch vorn und aktiv. Eine Konferenz braucht einen großen Konflikt (aber möglichst nicht mehr als einen). Sein Aufruf wird mit Spannung erwartet, der Vorsitzende hat sich mit Sorgfalt (oder gar Nervosität) vorbereitet, und das Ergebnis der Abstimmung gilt als offen.
Wer sein Gewicht im Innern der Partei vergrößern will, dem bietet der Konflikt den Anlaß für die große Szene. Die Basis liebt den Aufstand und ist auch wieder harmoniebedürftig. Die Parteifreunde murren über ihren Vorstand, sie lieben seinen Mangel an Prinzipien nicht (und sind doch untereinander auch nicht in der Verfolgung gleicher Prinzipien verbunden), sie mißtrauen dem Sachzwang und klagen das entschlossene Handeln ein. Doch zugleich hängen sie zutraulich – oder auch: solidarisch an den Leitfiguren, die im Fernsehen vorkommen. Die Delegierten sind dankbar für Auflockerungen, aber hinter dem ausufernden Streit erkennen sie schnell den persönlichen Ehrgeiz.
Der künftige Nachfolger, wenn er zu seinen ersten Schlägen ausholt, muß ihre Gefühle mehr in Rechnung stellen als ihren Verstand. Dazu die lautlose Regie des inneren Zirkels: Es ist nicht zu erwarten, daß Menschen, die beruflich etwa von einer Koalitionsaussage abhängen, die Entscheidung darüber den Stimmungsschwankungen einer Versammlung überantworten, die zufällig zusammengesetzt ist und deren Teilnehmer nach absolviertem Fundamentalismus am Montag sorgenfrei an ihren Behördenschreibtisch zurückkehren werden.
Will das Präsidium einen Konflikt entschärfen, trägt es Sorge, daß die Streitparteien sich schon vorher abreagieren. Es stellt eine Frage voran, die zwar die Gemüter bewegt, deren Entscheidung aber folgenlos bleibt. "Wie steht die Landespartei zu deutschen Militäreinsätzen in X, Y, Z?" Es kann auch mit den kleinen Schwächen der Teilnehmer kalkulieren. Delegierte sind mit ihrem Amt geehrt, aber schnell müde. Gegen Ende einer größeren Debatte, zumal - wenn sich mehr als zwei Vorschläge herauskristallisieren und der Überblick verlorengeht, gewinnt die Einsicht Oberhand, daß man irqendwann einmal zu einem Ergebnis kommen muß. Die Versammelten wollen endlich ihre Stimmkarten heben (jene Schöpfungstat des tatsächlichen Willens, in dem sie selbst vorkommen; jene Gebärde der Wichtigkeit, bei der sich die leuchtende Delegiertenkarte von den andersfarbigen Ausweisen der Gäste, Ersatzdelegierten und Pressevertreter scheidet).
Unser Mann muß darauf verzichten alle Irrtümer zu kritisieren, er muß das Wort mit Bedacht und nicht allzu oft ergreifen. Wenn in offener Abstimmung entschieden wird, darf er sich niemals enthalten darum zieht er dem Falschen das etwas weniger Falsche vor.
Auf der Heimfahrt am Sonntagnachmittag, in einem Wagen mit dem Bezirksvorsitzenden, teilt er dessen Freude, daß alles glattgegangen ist: Ein bißchen Kraftmeierei zur Weltpolitik, aber in den Personalfragen sind die Störenfriede eingebunden worden. Die Laienspieler wurden angehört, jetzt bleibt den Profis wieder für ein Jahr geordneter Geschäftsbetrieb.
Doch irgendwann neigt sich die Wahlperiode dem Ende entgegen, kaum daß der Abgeordnete Sicherheit gewann in seinem neuen Beruf "Politiker" (dem einzigen, den er jemals ausüben wird). Jetzt gilt es, das von der Partei geschenkte Mandat im Wahlkreis zu verteidigen. Und obgleich der Wahlkampf doch eine Sache der Parteizentralen ist, der Fachleute des Campaignings und der Werbeagenturen, kommt auf ihn viel Arbeit zu. Während die großen Planer darüber befinden, ob der Landesvater mit Tina Turner auf den Bildschirm kommt, lebt die Folklore alter Zeiten in Vorstadt oder Samtgemeinde fort: die persönliche Begegnung, der politische Frühschoppen, der Infostand.
Unser Politiker kennt inzwischen eine Unzahl wichtiger Leute seines Wahlkreises, auch solche von außerhalb der Partei. Aber das sind Entscheidungsträger, Multiplikatoren, in ihrer Meinung längst schon festgelegt, sind also nicht das Volk. Bis hierher kam er gut ohne seine Klienten aus, jetzt wünscht er sich, sie würden seine Säle füllen. Wo ist er nur zu stellen, der Mensch von nebenan, dem der Politiker so gern zurufen würde: "Ich bin ein Mensch wie du und ich"?
Lädt man ihn ein, so kommt er nicht. Der Landtagskandidat mag noch so bewegende Themen für seine Auftritte finden, die Wohnungsnot, die europäische Integration, mehr Platz für unsere Kinder... er bliebe allein, wenn nicht die Wahlkampfveranstaltung mit der Mitgliederversammlung des örtlichen Parteibezirks zusammengelegt worden wäre. Dadurch ist ein gewisser Grundstock von Teilnehmern gesichert. Falls ein Vertreter der Lokalpresse gekommen wäre, um dort im Bürgerzentrum des Kandidaten langfristige Perspektiven zur Verkehrs- oder Familienpolitik zu vernehmen, hätte es wie eine richtige Wahlkampfveranstaltung ausgesehen. Es kam aber keiner.
Unbeachtet von der beglaubigten Öffentlichkeit (der Presse), versinkt die tatsächliche Öffentlichkeit (am Mittwochabend) wieder im Nichts. Es ist, als habe die Versammlung gar nicht stattgefunden. Wegen schlechter Öffentlichkeitsarbeit werden dem Verantwortlichen im Ortsvorstand bittere Vorwürfe gemacht.
Es bleibt, dem Menschen, der zur Politik nicht länger gehen will, an seinen eigenen Plätzen aufzulauern, ihm vor dem Supermarkt die Hand zu schütteln, ihm beim Verlassen der U-Bahn ein Faltblatt zuzustecken. Der müde Mensch jedoch, zu müde abzuwinken, schaut nicht mal auf und sieht nicht, was er sehen sollte: daß der auf dem Foto und der Verteiler des Blattes sich ähnlich sehen.
In ihrem Wirkungsgrad ist die Begegnung mit dem Bürger nur gering, im Inhalt der Gespräche unerheblich; es kommt nicht darauf an, was er mit den Leuten redet, es sollen nur alle wissen, daß er mit den Leuten redet. Also stellt der Politiker sich nicht einfach an den Informationsstand in seinem Viertel. Vielmehr kündigt die Partei auf ihren Plakaten an: Der Abgeordnete wird zur angegebenen Zeit auf dem Marktplatz zum Bürgergespräch erscheinen.
Nun muß er den Wähler und die Wählerin mit Kugelschreibern und Rosen umwerben. Was keinem Richter oder Hochschullehrer, keinem Manager oder Behördenleiter zugemutet wird, muß er nun über sich ergehen lassen: seine Amtsführung durch Leute beurteilen lassen, die .nicht den geringsten Sachverstand mitbringen und die ihm zudem schon aufgrund seines Berufs mißtrauen.
Die Entscheidungsebenen der Politik sind seinen Wählern unbekannt. Er wird beschimpft wegen einer Verkehrsberuhigung, die der Stadtrat beschlossen, oder einer Atomanlage, über die der Bund zu entscheiden hat. Solange seine Partei im Landtag und in Bonn zur Opposition zählt, kann dem Kandidaten die Unkenntnis über Kompetenzen gleichgültig bleiben. Unmut gegen die Bundesregierung schadet ihm nicht. Er wird sich nicht abhängen lassen von den Themen, die den Leuten auf den Nägeln brennen. So ist er denn für oder gegen eine Landebahn, er erachtet das Bafög für zu niedrig und begegnet überhaupt dem Wähler, der jede andere Auskunft als faule Ausrede betrachten würde, mit Allzuständigkeit.
Die Wahlberechtigten laufen an ihm vorbei. Sie empfinden seinen guten Willen, seinen Trenchcoat und sein entschlossen-freundliches Gesicht als Anbiederung - er meinte es als Angebot. Windböen drohen den bunten Sonnenschirm davonzutragen, die ausgelegten Broschüren sind unter Klarsichtfolie vor plötzlichen Schauern geschützt. Die Geschäfte schließen, und die Leute haben es eilig.
Dann kommt der Höhepunkt des Wahlkampfs: Der Spitzenkandidat tritt auf in seiner Stadt. Auf dem Platz wurde eine kleine Bühne aufgebaut, der Wahlkreiskandidat und der Bürgermeister standen hinter dem Spitzenkandidaten, waren gut im Bild, wenn man nur das Podium aufnahm... Wenn man nur das Podium aufnahm, schien es überhaupt, als spreche der prominente Politiker hinter den vielen Mikrophonen zu vielen Leuten. Doch war der Platz zu groß, die Lautsprecheranlage allzu leistungsstark, und der Kandidat wußte nicht immer, wohin er reden sollte, zu der kleinen Schar der Neugierigen vor seinem Podest, die es zu Prominenz und Autogrammen zog, oder zu den skeptischen Passanten, die am Rande für einige Sätze stehenblieben. Seitlich der Bühne sang ein Betrunkener mit heiserer Stimme ein Lied.
So ist der Nachfolger es nicht allein, für den die Leute sich nicht interessieren. Er gehört einem merkwürdigen Berufsstand an, wird wichtig genommen und verachtet; über seinen Wahlkampf als einfacher Abgeordneter berichtet die Presse höchstens mit Süffisanz.
Geringgeschätzt von den durch ihn Vertretenen, erfreut er sich zugleich der Wertschätzung einiger weniger. Wer immer in einem Land mit dem öffentlichen Verkehrswesen befaßt ist, kümmert sich auch um ihn. Er nimmt kein Geld an, obwohl er es als Abgeordneter straflos dürfte, er reicht Spenden weiter in die Kasse der Partei. Der in seinem Selbstbewußtsein arg Gebeutelte erhält Einladungen, die mit geldwerten Leistungen verbunden sind: gesponserte Kongreßteilnahmen, Probefahrten in Übersee, Ehrenmitgliedschaften und dotierte Nebentätigkeiten; keine Bestechungen, nur Angebote, sich wichtig zu fühlen, Kontakte zu pflegen und dort dabeizusein, wo die Entscheidungen zwar nicht getroffen, aber vorbereitet werden.
Dem öffentlichen Personennahverkehr auf die Beine zu helfen, heißt auch viel reisen. Das U-Bahnnetz von Tokio will vor Ort begutachtet sein. Der Nutzen dieser Exkursion erscheint ihm durchaus fraglich. Doch dagegen zu Felde zu ziehen düpiert die Fraktionskollegen, die schon auf der Teilnehmerliste stehen.
Manches Ansinnen weist er zurück. Manch andere Ablehnung wäre beleidigend. Sie hieße, einem ehrbaren Freund einen Bestechungsversuch zu unterstellen. Wo er sich selbst ausschließt, fühlen die Kollegen sich aufs ungerechteste angegriffen. Sie sind doch, als Abgeordnete, durch einen Freiflug nicht zu korrumpieren. Überhaupt geht es meist um Beträge, deren Geringfügigkeit den Verdacht der Vorteilsnahme abwegig erscheinen läßt.
Und doch sammelt sich hier ein schlummernder Vorrat für den Skandal. Unumgängliche Unregelmäßigkeiten: Man kann nicht zugelassen werden zu den inneren Kreisen, wenn man seine Untadeligkeit wie einen stummen Vorwurf pflegt. Man muß sich ein wenig kompromittieren, um das Mißtrauen der anderen Geheimnisträger zu zerstreuen. Dabei wird eines Tages, wenn er einen Fehler zuviel begeht, die Presse mit jenem Material aus Kleinigkeiten, gespeist werden, und sie wird seinen Abtritt von der Bühne eine Frage des Anstands und der politischen Kultur nennen.
Vorläufig ist es noch nicht soweit, noch spürt er die Aufwinde. Der künftige Komet hat sich innerhalb der Partei justiert und das Vertrauen eines Flügels, einer innerparteilichen Vereinigung und seiner Gebietsorganisation erlangt. Jetzt wird es Zeit, einzutreten in die Umlaufbahn der neuen Sterne, ein Himmelskörper in der Galaxie der unverbrauchten Hoffnungen, die aus Männern besteht, die nachdenklich", und Frauen, die fortwährend "selbstbewußt" genannt werden. Für eine Weile werden auch Skeptiker ihre vorsichtige Sympathie an ihn knüpfen: Warum soll es nicht auch auf dem Feld der Politik ehrliche Leute geben? Menschen, die meinen, was sie sagen, und sagen, was sie denken?
Irgendwann, wenn die ersten größeren Aufgaben zu erledigen sind (als Minister, Oberbürgermeister oder Bundesgeschäftsführer) verblaßt die Begeisterung für den Shootingstar. In der Regel hat er sich bekannt gemacht, indem er gegen eine Sache war, nun muß er für viele sein. Nun trainiert er die Fähigkeit, mit den Gegnern Konsens zu finden, ohne die Freunde zu verärgern. Jetzt muß er mit Vorschlägen auf sich aufmerksam machen, die ganz im Gegensatz zu seinen politischen Anfängen stehen. So erweist er sich als unabhängig. Die anderen sehen ihn nicht mehr als Flügelmann, er taugt zu mehr als zum Partikularvertreter. Die eigenen Sympathisanten sind irritiert; doch solange er erfolgreich ist, neigen sie zu der Hoffnung, in ihm einen Verfechter ihrer eigenen Überzeugungen aufsteigen zu sehen: einen, der die Interessen der Ökologie oder die Sache der Arbeitnehmer im Grunde vorantreibt, auch wenn er Zugeständnisse machen muß.
Er ist jetzt, wo er hingelangen wollte. Sein Bild in den Nachrichtensendungen, er sammelt nicht mehr die Artikel über sich. Er ist eine geschützte Person, der Staat stellt ihm junge Männer in den Garten. Schutzlos wurde die Privatheit darüber, Geschäfte und Geliebte vergangener Jahrzehnte: ein Forschungsgegenstand. Authentisch soll er sein. Als Mensch, wie er einmal gar kein Politiker ist. Das Fernsehen nähme ihn gern beim Nasebohren auf.
Das stellen sich die Zuschauer so vor: Er führt, wenn er in der politischen Arena spazierengeht, eine nicht authentische Version spazieren: den politischen Abklatsch seiner selbst. Er hat den Abklatsch übergestülpt als Kostüm wie das Schaf den Wolfspelz. Er kann nicht mehr Schafssprache sprechen, sondern muß unverständlich bellen. Das alles macht er mit persönlichem Mißvergnügen und nur, solange er im Dienst ist. Des Wolfspelzes ledig jedoch, kommt ein Mensch in Puschen zum Vorschein, fähig der Schafssprache. Den soll das Fernsehen am Kamin besuchen gehen.
Mehr noch als die Überraschungsgäste in Talk-Shows fürchtet er die Ungewißheit, wann sein Verfallsdatum überschritten ist. Er wählte den falschen Zeitpunkt für eine Attacke, verbündete sich mit anderen Mächtigen, die den Kampf dann, ganz unerwartet, verloren... immer wieder übersteht er Katastrophen. Einmal nicht.
Die ersten Veröffentlichungen über den Millionenschaden nennt er ein durchsichtiges Manöver, und er streitet alle Kenntnis ab. Bald muß er Kenntnis einräumen, aber er leugnet Verantwortung. Er entläßt einen Abteilungsleiter, sofort wird ein Untersuchungsausschuß gefordert. Dann folgen Tage der Beruhigung, der Kanzler mahnt gar zur Unschuldsvermutung. Die Gegner lassen nicht locker, warten auf die nächste Gelegenheit. Freunde sind plötzlich auf Reisen, Gespräche werden für spätere Wochen in Aussicht gestellt. In der Nacht ein Anruf des Referenten, er erfährt, was am Morgen in der Zeitung stehen wird. Die Diplomarbeit. Es heißt, er habe sich seine Diplomarbeit schreiben lassen. Aber das ist doch eine Lappalie, und es stimmt so nicht.
Am Tag nach seinem Rücktritt bleibt das Telefon stumm. Keine Frühbesprechung, keine Handakten. Das Büro nimmt zwei Absagen entgegen, der Terminkalender des Monats lichtet sich. Sein Gärtner kommt vorbei und drückt ihm wortlos und lange die Hand. Dieses Zeugnis menschlichen Empfindens bewegt ihn zutiefst. Wie ohne Falsch doch die einfachen Leute sind.



(last update: 3.11.1999)
email: andrej@andrej-heinze.de